Was der SPIEGEL in seiner neuen Ausgabe (leider hinter Bezahlschranke) berichtet, ist zwar nicht neu. Aber dass über den Genozid jetzt endlich in einem der deutschen Leitmedien (neben vielen anderen inzwischen) berichtet wird – das ist neu und begrüßenswert! Hier einige Auszüge aus dem Artikel.
Brutaler Abnutzungskrieg im Gazastreifen – Die Palästinenser hungern, und Israel startet eine Propagandaoffensive
Israel zerstört das Hilfssystem der Uno, ersetzt es durch die militarisierte, unprofessionelle Organisation GHF – und beschuldigt dann die Vereinten Nationen, für den Hunger in Gaza verantwortlich zu sein. So funktioniert Desinformation.
Eine Analyse von Mathieu von Rohr
Eine alte Regel der Propaganda lautet: Wiederhole eine große Unwahrheit oft genug – und niemand wird mehr wissen, was er glauben soll. Russland hat diese Technik perfektioniert, etwa mit der Behauptung, die »Grünen Männchen« auf der Krim hätten nichts mit Moskau zu tun. Auch Israels Regierung nutzt diese Methode – selbst unter dem Druck weltweiter Proteste gegen das Aushungern der Menschen in Gaza.
Die Botschaften, die Netanyahus Regierung sendet, sind verwirrend widersprüchlich: Erstens gebe es gar keinen Hunger in Gaza (das ist eine Lüge). Zweitens sei in Wahrheit die Uno schuld an der schlechten Versorgungslage (ebenfalls eine Lüge). Drittens lässt Israel nun wegen des internationalen Drucks plötzlich wieder mehr Hilfen zu. Es warf sogar selbst die winzige Menge von sieben Paletten Hilfe aus der Luft über Gaza ab, was reine Symbolpolitik ist – und ein indirektes Eingeständnis, dass der Hunger real ist.
Die IPC-Initiative, das international anerkannte und von Uno und WHO unterstützte Instrument zur Einstufung von Ernährungskrisen, warnte am Dienstag erneut in drastischen Worten: Gaza erreiche derzeit »das schlimmste Szenario einer Hungersnot« – eine Bewertung, die sonst etwa bei Katastrophen wie in Somalia oder im Südsudan vergeben wurde.
Es gibt keinen Zweifel, dass Israel diese Hungerkrise selbst verursacht hat. Die Aushungerung der Bevölkerung begann bereits im März, als die Regierung Netanyahu die Einfuhr von Hilfsgütern monatelang nahezu vollständig blockierte, um die Hamasunter Druck zu setzen. Netanyahu sagte damals: »Israel hat entschieden, keine Waren und Hilfsgüter mehr nach Gaza zu lassen.«
Der mächtige, rechtsextreme Finanz- und Siedlungsminister Bezalel Smotrich drückte es plastischer aus: »Nicht einmal ein Weizenkorn wird nach Gaza gelangen.« Smotrich hatte schon im vergangenen Jahr gesagt: »Es wäre gerecht und moralisch richtig, zwei Millionen Menschen in Gaza auszuhungern, nur wird die Welt uns nicht lassen.«
Ab Mai übertrug die israelische Regierung die Ausgabe von Hilfslieferungen der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) – einer militarisierten, intransparenten Organisation mit Verbindungen zur israelischen Armee und US-Unternehmern. Weil die GHF gegen die humanitären Prinzipien von Neutralität und Unabhängigkeit verstößt, verweigern Uno und Hilfsorganisationen die Zusammenarbeit: Hilfe dürfe nicht von einer Kriegspartei kontrolliert werden. Genau das geschieht hier jedoch faktisch.
Die Mär von der Hamas und den gestohlenen Hilfslieferungen
Doch warum eigentlich zerstörte Israel das funktionierende Hilfsverteilungssystem der Uno und der mit ihr kooperierenden internationalen Hilfsorganisationen? Die Begründung, die immer und immer wieder präsentiert wurde, lautete: Die Hamas stehle systematisch Hilfsgüter von der Uno, sie finanziere sich so. Belege blieb Israel schuldig. Die Uno selbst dementierte den Vorwurf stets in aller Klarheit . […]
Mit anderen Worten: Die Geschichte vom großen Hilfsgüterklau der Hamas ist bislang unbelegt – und wird dennoch gezielt als Propagandainstrument eingesetzt.
Trotzdem wurde sie vielfach aufgegriffen – auch deutsche Politiker wie Frank-Walter Steinmeier oder Armin Laschet wiederholten sie. In manchen Medien floss sie in der nachrichtlichen Berichterstattung als vermeintliche Tatsache ein.
Die Behauptung diente der israelischen Regierung als Vorwand, um das Hilfsverteilsystem der Uno und der mit ihr kooperierenden Hilfsorganisationen zu ersetzen. Die GHF übernahm nun die Hilfsverteilung, mit katastrophalen Folgen. Denn die dubiose Organisation verteilt Hilfe nur an vier militärisch gesicherten Standorten, zu denen die Menschen teils Stunden zu Fuß gehen müssen und an denen chaotische Zustände herrschen. Laut Uno wurden seit Mai in Gaza mehr als 1000 Menschen beim Versuch getötet, an Nahrung zu gelangen.
Der Beschuss der Hilfesuchenden
Zahlreiche Berichte, auch eigene Recherchen des SPIEGEL , belegen: Israelische Soldaten und GHF-Söldner schossen auf Hilfesuchende an den Ausgabestellen. Die israelische Armee gab »Warnschüsse« zu, die Militärstaatsanwaltschaft hat Untersuchungen eingeleitet. Soldaten berichteten in »Haaretz« , sie hätten auf Befehl in die Menge gefeuert – mit tödlichen Folgen. Ein ehemaliger US-Soldat, der für die GHF arbeitete, berichtete der BBC , Armeeangehörige hätten gezielt auf Zivilisten geschossen. Er sei Zeuge von Kriegsverbrechen geworden. […]
Die Daten der zuständigen israelischen Behörde zeigen einen massiven Einbruch der Essenslieferungen , seit die GHF die Verantwortung übernommen hat. Davor gelangte wochenlang gar nichts nach Gaza. Internationale Organisationen warnen seit Monaten eindringlich. Laut Welternährungsprogramm hatte vergangene Woche ein Drittel der Menschen tagelang nichts zu essen – es gab erste Tote.
Trotz aller Zahlen bestreitet Israels Regierung weiterhin, dass in Gaza gehungert wird.
Die »Pallywood«-Verschwörungstheorie
In sozialen Netzwerken läuft gleichzeitig eine anscheinend orchestrierte Desinformationskampagne: Bilder ausgehungerter Kinder oder verzweifelt an Suppenküchen anstehender Menschen werden grundsätzlich als Fälschungen bezeichnet, als angeblich KI-generiert oder aus anderen Ländern stammend; verbunden mit menschenverachtender Häme. Influencer behaupten, die Hamas kontrolliere ohnehin alles, man dürfe gar nichts glauben, als sei die Hamas allmächtig und steuere jedes Bild, jeden Bericht.
Und natürlich nutzt die Hamas die Bilder des Hungers für sich, was aber nur möglich ist, weil Israel diesen Hunger erzeugt hat und der Hamas damit diese Bilder liefert.
Gaza wird fälschlicherweise seit Beginn des Kriegs immer wieder als Ort dargestellt, aus dem angeblich keine glaubwürdigen Informationen kommen – obwohl es verifizierbare Berichte und Bilder gibt. Doch die Botschaft aus dem propagandistischen Paralleluniversum lautet: In Gaza gibt es keine Opfer, nur Terroristen. In sozialen Netzwerken kursiert die »Pallywood«-Verschwörung: Jedes Bild aus Gaza sei inszeniert, jede Szene manipuliert. Es ist absichtliche Entmenschlichung – mit dem Ziel, jegliches Leid zu leugnen.
Dabei werden immer wieder Fotos von Kindern thematisiert, die bereits gesundheitlich beeinträchtigt waren, und von denen deshalb besonders krasse Fotos entstehen. Doch auch diese Kinder müssen, mit vernünftiger Nahrung, Spezialmilch und Medikamenten, nicht hungern. Die Frage, ob sie bereits Krankheiten hatten, ist deshalb eine reine Ablenkung: Sie müssen nicht sterben, wenn Israel eine ordentliche Versorgung der Bevölkerung zulassen würde. Zudem wurde die medizinische Versorgung in Gaza weitgehend zerstört . Die Uno wie Hilfsorganisationen kategorisieren Tausende Kinder als mangelernährt.
Die Strategie geht so: Zweifel säen, Bilder diskreditieren, Zahlen infrage stellen – auch wenn die Fakten eindeutig sind.
Dazu passt die Diskreditierung der Uno als unabhängige Hilfsdienstleisterin, Beobachterin und Warnerin. Die Uno genießt in Krisenregionen weltweit hohes Ansehen bei der Katastrophenhilfe. Doch Israels Regierung beschuldigt sie faktisch, mit Terroristen unter einer Decke zu stecken.
Israels Kampagne gegen die Uno
Es begann mit der Kampagne gegen die UNRWA, das Uno-Palästinenserhilfswerk. Israel warf einem Dutzend Mitarbeiter Beteiligung am Terror des 7. Oktober vor. Die Organisation suspendierte die Betroffenen zwar umgehend. Doch die Regierung weitete die Vorwürfe immer weiter aus, behauptete, ein großer Teil der UNRWA-Mitarbeiter habe Hamas-Verbindungen – ohne wirkliche Beweise vorzulegen. Einige unabhängige Untersuchungen fanden zwar »Neutralitätsprobleme«, aber keine Hinweise auf systematische Verbindungen zur Hamas. Trotzdem wurde UNRWA international diffamiert, ihre Arbeit in Israel verboten. Viele Staaten, auch Deutschland, stellten vorübergehend ihre Zahlungen ein, um sie dann später teilweise wiederaufzunehmen. Auch in Deutschland wird seither regelmäßig behauptet, UNRWA sei quasi identisch mit der Hamas. Es ist eine Verleumdung, die keine Belege mehr braucht, weil die Propaganda längst ihre Wirkung getan hat.
Nach dem Ausschalten der UNRWA, der erfahrensten Hilfsorganisation in Gaza, übernahmen andere Uno-Organisationen selbst – bis auch sie im Mai durch die GHF verdrängt wurden.
Inzwischen geht Israel auch gegen OCHA vor, das Katastrophenhilfsbüro der Uno. Dessen Leiter soll kein neues Visum erhalten – weil er öffentlich kritisiert hatte, dass Menschen beim Anstehen für Hilfe an GHF-Verteilstationen erschossen wurden.
Vergangene Woche folgte die nächste absurde Wendung: Die Regierung machte ausgerechnet die entmachtete Uno für fehlende Hilfe verantwortlich: Sie verbreitete Drohnenvideos von Hilfspaletten an Grenzübergängen, die die Uno nicht abgeholt habe. Dabei hatte die Uno schon davor immer wieder darüber geklagt, dass sie ihre Arbeit wegen massiver israelischer Einschränkungen nur beschränkt machen könne. Etwa die Hälfte aller Transportanfragen für Güter innerhalb von Gaza seien von der Armee abgelehnt worden, es gebe komplizierte Genehmigungsprozesse. Viele Lieferungen würden zudem aus Verzweiflung geplündert – teils unter den Augen israelischer Soldaten. Für die Sicherheit wäre laut Völkerrecht wohl Israel als Besatzungsmacht verantwortlich.
Die GHF und Israels Regierung versorgen die Menschen offenkundig nicht ausreichend.
Die versuchte Verantwortungsverschiebung
Dennoch versuchte Israels Regierung nicht nur der Uno die Schuld für den Hunger zuzuschieben – sie behauptet bis heute immer noch: Es gebe in Gaza gar keinen Hunger. Nicht einmal Donald Trump wollte Premierminister Benjamin Netanyahus grotesker Verzerrung der Realität am Montag noch zustimmen. Auf die Frage, ob er mit Netanyahu darin übereinstimme, dass es keinen Hunger in Gaza gebe, antwortete der US-Präsident: »Ich weiß nicht. Wenn man sich das im Fernsehen anschaut, würde ich sagen: nicht unbedingt. Die Kinder sehen sehr hungrig aus.« Später fügte er hinzu: »Das ist schon ein echtes Verhungern.«
Am Sonntag hatte Israels Regierung bereits eine Kehrtwende eingeleitet, Israels Armee kündigte tägliche Feuerpausen in drei Regionen an, um Hilfe zuzulassen. Die Regierung erlaubte zugleich, dass die Uno verstärkt Hilfsgüter auf dem Landweg aus Ägypten nach Gaza bringt. Der Aktionismus demonstrierte: Israel hatte selbst die Hilfe blockiert, den Hunger verursacht – und gab unter internationalem Druck nun teilweise nach.
Ein paar Tage verbesserter Hilfe werden das Problem nicht lösen. Das GHF-System bleibt unzuverlässig, ineffizient – und gefährlich. Es muss beendet werden. Auch Hilfslieferungen aus der Luft sind unzureichend, teuer, ineffizient, darin sind sich die Hilfsorganisationen einig: Die israelische Regierung muss der Uno und den renommierten internationalen Hilfsorganisationen wieder erlauben, zuverlässig Hilfe über den Landweg einzuführen. Und natürlich braucht es einen dauerhaften Waffenstillstand und einen Geiseldeal – um den verheerenden Krieg zu beenden, durch den es nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde bereits mehr als 60.000 Tote gibt und der fast den ganzen Gazastreifen zerstört hat.
Stattdessen hat Netanyahu gerade einen Plan in seinem Kabinett vorgeschlagen, der vorsieht, Gaza in Teilen zu annektieren – um seine Koalition mit Rechtsextremen aufrechtzuerhalten. Laut israelischen Medienberichten könnte dieser Plan von einer erneuten Totalblockade Gazas begleitet werden.
Diese Wahrheiten sind leicht recherchierbar, sie sind auch nicht kompliziert – und doch setzen sie sich nicht immer durch. Am Sonntag sagte im »Presseclub« die Chefkorrespondentin der Deutschen Welle, es stehe in Bezug auf die Frage, wer am Hunger schuld sei, »Aussage gegen Aussage«.
Wenn selbst erfahrene Journalisten glauben, es stehe »Aussage gegen Aussage«, war die Propaganda erfolgreich. Was bleibt, ist eine Kampagne der Schuldverschiebung – auf Uno, Helfer, Hungernde.