Buchrezension von Arn Strohmeyer
Avi Shlaim ist einer der renommiertesten israelischen Historiker. Bei dieser Feststellung muss man aber eine Differenzierung vornehmen. Denn die israelische Geschichtsschreibung steht in der Regel unter dem Diktat der zionistischen Staatsideologie. Die Historiker dieser Richtung erfüllen die Vorgaben dieser Ideologie, sind also in ihrem Forschen weltanschaulich gebunden. Gegen diese staatlich institutionalisierte Geschichtsschreibung bildete sich in den 1990er Jahren – etwa zur Zeit, als sich durch die Oslo-Verträge so etwas wie eine kurzzeitige Entspannung zwischen Israel und den Palästinensern abzeichnete – eine Richtung in der israelischen historischen Forschung heraus, deren Vertreter die Vorgaben des Zionismus ablehnten und in die damals für kurze Zeit geöffneten Archive gingen, um zu erfahren, „wie es wirklich war“.
Es entstanden damals wichtige Werke – vor allem über die Nakba und den israelisch-arabischen Krieg 1948/49. Zu diesen sogenannten „neuen Historikern“ gehören so bedeutende Wissenschaftler wie Benny Morris, Ilan Pappe, Tom Segev und eben Avi Shlaim. Um den Anfeindungen von zionistischer Seite zu entgehen, nahm Ilan Pappe einen Ruf an die Universität in Exeter in England an. Shlaim war schon vorher aus persönlichen Gründen nach England gegangen und forschte und lehrte an der Universität Oxford. Morris wechselte dagegen die politische Seite und wurde ein gläubiger Zionist.
Shlaim beschreibt in seinem Buch – einer Sammlung von Essays aus den letzten Jahren – sehr genau die Entstehung und den Werdegang des Konfliktes der Zionisten mit den Palästinensern, vom Eintreffen der ersten jüdischen Einwanderer in Palästina, ihre allmähliche Inbesitznahme des Landes, die Aufstände gegen die fremden Usurpatoren und die Kriege der neuen Herren des Landes mit den Arabern bis zum noch andauernden schrecklichen Völkermord in Gaza.
Der Autor macht als Ursache für die seit über einem Jahrhundert anhaltende Gewalt den zionistischen Siedlerkolonialismus aus, dessen einzige Logik die Vertreibung der Einheimischen und die totale Übernahme des Landes war und ist. Er schreibt: „Dieses Ziel kann nicht durch Diplomatie und Verhandlungen erreicht werden. Gewalt liegt Israel als Kolonialmacht im Blut. Israel behauptet, die Gewalt sei nicht von ihm initiiert, sondern ihm aufgezwungen worden. (…) Diese Sichtweise ignoriert jedoch völlig die Rolle, die Israel besonders durch die Besetzung arabischer und palästinensischer Gebiete gespielt hat. In allen Kriegen Israels seit 1967 ging es darum, das zionistische Kolonialprojekt über die Grüne Linie [die Waffenstillstandslinie von 1949] hinaus zu verteidigen und auszuweiten.“
Der absolute Hohepunkt der zionistischen Gewalt ist Israels Völkermord im Gazastreifen nach dem Hamas-Anschlag nach dem 7. Oktober 2023, dessen genauer Ablauf noch gar nicht geklärt ist, da Israel keine internationale Untersuchung des Geschehens zulässt. Der zionistische Staat nahm den Hamas-Überfall aber zum Vorwand für seine genozidale Gewaltorgie, die – dafür sprechen die Aussagen sehr vieler israelischer Politiker und Militärs – nur ein Ziel hat: den Gazastreifen vollständig zu zerstören und seine Bewohner entweder zu vertreiben oder zu eliminieren, um auch dieses palästinensische Gebiet dem zionistischen Projekt einzugliedern. Shlaim bekennt, dass er lange gezögert hat, das Wort Völkermord in diesem Kontext zu benutzen, aber die Fakten des Geschehens im Gazastreifen haben ihn dann überzeugt, den Genozid dort als Tatsache anzunehmen.
Mit Selbstverteidigung, wie Israel behauptet, hat dieser Mord- und Zerstörungsfeldzug nichts zu tun. Shlaim weist ausdrücklich darauf hin: Ein Besatzerstaat kann sich nach dem Völkerrecht nicht gegen die von ihm Besetzten „selbst verteidigen“. Wobei auch ergänzt werden muss, dass der Widerstand der Hamas gegen den Besatzer und Unterdrücker Israel völkerrechtlich völlig legal ist, er darf sich nur nicht gegen Zivilisten richten.
Im Westen wird der Hamas-Anschlag vornehmlich als antisemitische Attacke auf Juden verstanden – eine ganz unhistorische Betrachtungsweise, wenn man den Anschlag in den Kontext des israelisch-palästinensischen Konfliktes von seinem Beginn an einordnet. Israel hat unendlich viele Massaker an den Palästinensern begangen, zudem sieben Kriege gegen den von ihm vollständig eingeschlossenen und belagerten Gazastreifen geführt – mit immensen Zerstörungen und Tausenden von Toten als Folge. Die Israelis nennen diese Kriege zynischerweise „Rasenmähen“, womit sie ein Vorgehen meinen, das regelmäßig und mechanisch ohne ein absehbares Ende durchgeführt wird, wobei das Töten von Zivilisten und die Zerstörung der Infrastruktur als ganz selbstverständlich dazugehören.
Shlaim ordnet die Hamas-Attacke so in die Geschichte des Konfliktes ein: „Der Hamas-Anschlag vom 7. Oktober, so brutal und mörderisch er auch war, ereignete sich nicht im luftleeren Raum. Er geschah vor dem düsteren Hintergrund der totalen Blockade Gazas seit 2007 und dem ständigen Einsatz militärischer Gewalt gegen das Gebiet. Im wahrsten Sinne des Wortes war er eine Reaktion auf ein halbes Jahrhundert brutaler Besatzung und grausamer Unterdrückung.“
Der Autor bezeichnet das Vorgehen Israels gegen die Palästinenser – nicht nur in Gaza – als „Staatsterrorismus“. Diese Gewalt ist, wie erwähnt, eine logische Folge des Siedlerkolonialismus. Durch eine solche Politik hat Israel die Kernwerte des Judentums – Altruismus, Wahrheit, Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit und Frieden – verraten. Die Politik der Regierung von Benjamin Netanjahu stellt für Shlaim das genaue Gegenteil dieser jüdischen Kernwerte dar. Sie steht für Gewalt, Unterdrückung und Friedlosigkeit. Sie ist die „aggressivste, nationalistischste, ethnozentrischste, messianistischste und gewalttätigste in der Geschichte Israels.“
Dass ein solches Regime einen entsprechenden Führer hat, verwundert da nicht. Shlaim schildert Netanjahu als skrupellosen und verlogenen Macht- und Gewaltmenschen, der nur ein Ziel verfolgt: ganz Palästina unter die Kontrolle der Zionisten zu bringen, wobei ihm jedes Mittel recht ist – auch die Instrumentalisierung des Holocaust für den Genozid in Gaza. Der zionistische Staat hat den Mord an den europäischen Juden durch die Nazis immer schon als Erpressungs- und Rechtfertigungsmittel für seine Gewaltpolitik instrumentalisiert. Netanjahu setzt das in gesteigerter Weise fort, denunziert die Hamas als die „neuen Nazis“ und leitet daraus das Recht ab, sie zu vernichten. Abgesehen davon, dass der Vergleich der Hamas mit den Nazis historisch völlig unsinnig ist, ist es eine Perversion, einen Völkermord durch einen anderen zu rechtfertigen!
Shlaim spricht in diesem Zusammenhang von „Paranoia“ und wirft der israelischen politischen Elite vor, die Sicherheitsbesorgnis und das Bedrohungsgefühl ihrer Bürger skrupellos zu manipulieren: „Der Erzmanipulator ist Benjamin Netanjahu. Er ist der Hohepriester der Angst, der unaufhörlich auf den existenziellen Bedrohungen des Landes herumreitet. Die Rhetorik, die Hamas stelle eine existenzielle Bedrohung für Israel dar, ist angesichts der militärischen Asymmetrie zwischen den beiden Seiten völlig absurd, erzielt aber die gewünschten psychologischen und politischen Effekte. (….) Die Formulierungen, mit denen Netanjahu und seine rechten Kollegen den Konflikt mit der Hamas darstellen, sind eine Mischung aus Halbwahrheiten, Verschleierung, Täuschung und Doppelmoral. Die Darstellung bietet keinen friedlichen Ausweg aus dem Dilemma. Sie ist das Problem, nicht die Lösung.“
Die entmenschlichende und dämonisierende Rhetorik der israelischen Politiker und Militärs – dass die Palästinenser „menschliche Tiere“ seien, dass man sie wie Amalek (ein Volk in Palästina im Alten Testament) vernichten und dass man Gaza völlig zerstören müsse – erinnert in der Tat an die unmenschliche Sprache der Nazis. Es handelt sich aber nicht nur um Rhetorik, sondern um Absichtserklärungen, die Israel ja auch in die genozidale Realität umgesetzt hat.
Wie weit ist Israel mit seiner ultrarechten Regierung schon ein faschistischer Staat? Shlaim geht mit dem Wort Faschismus eher vorsichtig um, sieht aber Merkmale, die die Bezeichnung durchaus rechtfertigen: den Glauben an die Doktrin, dass Gewalt die Welt nach der rassistisch-jüdisch-suprematistischen Vision formen könne und dass Macht sowohl in der Innen- wie in der Außenpolitik Recht schaffe. Dazu kommen weitere Kriterien: die Nation über den Einzelnen zu stellen, Nichtjuden zu diskriminieren, die Rechtsstaatlichkeit im Inneren zu untergraben und im Ausland eben auf nackte Gewalt zu setzen.
Shlaim bezeichnet die israelische politische Rhetorik und die Politik vor Ort in Gaza nicht nur als „faschistisch“, sondern als „völkermörderisch-faschistisch“. Zweimal fällt in seinem Text die äußerst harte Benennung Israels als „Schurkenstaat“. Das „neue Modell“ brutaler Kriegsführung gegen die Hamas und die Bevölkerung in Gaza bezeichnet er nicht nur als Völkermord, sondern eben auch als „Staatsterrorismus“.
Der Autor unterzieht aber nicht nur die israelische Politik einer harten Kritik, sondern auch die der westlichen Staatengemeinschaft, die hinter Israels verbrecherischer und völkerrechtswidriger Politik steht. Die Doppelmoral des Westens, Russlands Angriff auf die Ukraine scharf zu verurteilen, Israels Völkermord in Gaza aber moralisch zu verteidigen und mit Waffenlieferungen zu unterstützen, ist für Shlaim ein deutliches Zeichen für den totalen Glaubwürdigkeitsverlust des Westens: „Israels Verhalten im jahrelangen Gaza-Krieg schadet nicht nur seinem eignen Ruf, sondern beschleunigt auch den Niedergang der von den USA geführten liberalen internationalen Ordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet worden war.“
Den Grundfehler in der Politik des Westens sieht Shlaim darin, dass sie Israel eine Ausnahme- und Sonderstellung eingeräumt hat: Es kann tun und lassen, was es will, es wird nie zur Verantwortung gezogen, bleibt immer straffrei. Dieser rechtliche und moralische Freibrief erweist sich nun als Bumerang für den Westen, denn die Duldung und Unterstützung des Völkermords in Gaza zieht den gesamten Westen in den moralischen Abgrund.
Das Erscheinen von Avi Shlaims Buch in Deutschland kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Aus zwei Gründen: Er zeigt uns ohne ideologische Scheuklappen und Ausflüchte die Wahrheit über das unselige Geschehen im Gazastreifen auf – dass dort eben ein brutaler und kaltblütiger Genozid durchgeführt wird. Und damit legt er indirekt auch, also ohne das direkt auszusprechen, das völlig falsche und auf Illusionen und Lügen beruhende deutsche Israel-Bild bloß: dass Israel von Anfang an nicht der moralisch saubere Staat der Holocaust-Überlebenden war (natürlich gab es dort Holocaustüberlebende, aber sie wurden diskriminiert und verachtet, weil sie nicht dem Pionier-Ideal des „neuen Juden“ entsprachen), sondern ein siedlerkolonialistisches Projekt, das einzig und allein auf Gewalt – Vertreibung, Besatzung und Unterdrückung – gegründet war und immer noch ist. Ein Staat, der glaubt, dass für ihn Völkerrecht und Menschenrechte nicht gelten, weil er über dem Gesetz steht.
Man darf die Prophezeiung wagen, dass Israel für diese Hybris, die in Gaza ihren Höhepunkt erreicht hat, einen hohen Preis wird zahlen müssen. Das Buch von Avi Shlaim gehört in die Hände jedes Interessierten, der die Realität dessen, was in Israel und den palästinensischen Gebieten geschieht, verstehen will. Der Autor leistet mit ihm Aufklärung im besten Sinne. Vor allem auch deutschen Politikern täte die Lektüre gut, um endlich von den Illusionen über den zionistischen Staat Abschied zu nehmen und die wahre Realität Israel zur Kenntnis zu nehmen.
Avi Shlaim: Genozid in Gaza. Israels langer Krieg gegen Palästina, Abraham Melzer Verlag Neu-Isenburg, ISBN 978-3-00-083771-5, 24 Euro
5.10.2025