Rede von Tsafrir Cohen, Geschäftsführer, medico international bei der Demonstration „Gaza: Massaker, Aushungern, Vertreibung stoppen!“, Heidelberg, 5. Juli 2025
Liebe Freundinnen und Freunde,
vielen Dank für die Möglichkeit, hier und heute gegen die Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen in Gaza zu sprechen. „Eines Tages werden immer alle schon dagegen gewesen sein“. Das ist der Titel eines Buches des kanadisch-ägyptischen Journalisten Omar El Akkad über das Versagen der politischen und intellektuellen Eliten in Nordamerika, Stellung gegen das Abschlachten der Palästinenserinnen und Palästinenser in Gaza, ihre Vernichtung, ihr Aushungern, ihre Vertreibung zu beziehen. Eine Beschreibung, die auf die deutschen und europäischen Eliten ebenso zutrifft. Hinterher, so meint El Akkad, werden sie dann so tun, als wären sie schon immer dagegen gewesen. Eine Rechtfertigungsfigur, die wir aus dem deutschen Kontext ja kennen: Laut jüngeren Umfragen glauben 54 Prozent der Deutschen, dass ihre Angehörigen Opfer der Nationalsozialisten waren. Nur 18 Prozent vermuten, ihre Angehörigen seien in Verbrechen verwickelt gewesen. Täter waren immer die anderen.
Wir haben Omar El Akkad darum gebeten, diesen Buchtitel für ein Plakat verwenden zu dürfen. Er hat uns das gerne erlaubt. Selten ist ein Plakat von medico so häufig verlangt und in Buchhandlungen, Veranstaltungsräumen, in Wohnzimmern und Amtsstuben aufgehängt worden. Warum passt dieser Satz so gut zu der moralischen Befindlichkeit dieser Tage? “Eines Tages werden immer alle schon dagegen gewesen sein”.
Ich verstehe diesen Satz so. Der Anspruch des Westens die Moral, ja die Überlegenheit der eigenen Moral zu verkörpern, ist so hohl und leer wie nie zuvor. Während des Kalten Krieges konnte der Westen noch von sich behaupten wenigstens in seiner Kernzone die Freiheit verteidigt zu haben, wenn auch auf Kosten vieler anderer Völker und Länder, die zum Teil nachhaltig zerstört wurden. Mit dem Ende des Kalten Krieges und der historisch kurzen Ära westlicher Hegemonie gab es das Versprechen, Demokratie und kapitalistischen Wohlstand global werden zu lassen. Auch Völker- und Menschenrechte sollten eine andere Rolle spielen. Dass dieses Versprechen immer den hegemonialen Interessen untergeordnet war, ist bekannt. Ebenso die Millionen Toten, die es in der Golfregion und an ressourcenreichen Regionen wie dem Kongo gekostet hat. Aber man konnte doch wenigstens die Regierungen adressieren und die Einhaltung des Völkerrechts reklamieren. Mit der israelischen Reaktion auf den massenmörderischen Anschlag der Hamas am 7. Oktober ist jedoch ein neuer Tiefpunkt der Unmenschlichkeit erreicht. Mit der offenen Unterstützung dieses Vorgehens und den damit einhergehenden Bruch mit dem Völkerrecht, den Menschenrechten, ja der Menschlichkeit müssen uns fragen: Was können wir hierzulande überhaupt noch bei unseren Regierungen anklagen, ohne dass es vollends ins Leere läuft? Der ehemalige israelische Unterhändler bei den Osloer Friedensgesprächen, Daniel Levy, sprach erst kürzlich vom “Ground Zero der Unmenschlichkeit”. Ground Zero ist das, was übrigbleibt, wenn bunkerbrechende Bomber alles bis in die tiefsten Tiefen hinein zerstören, was vorher da war.
Vor unseren Augen, mit unserem Wissen, und in unserem Namen geschieht in Gaza ein unerhörtes Verbrechen, für das sich kaum noch Worte oder juristische Begriffe finden lassen. Während in Deutschland der immer schalere Versuch unternommen wird, die Bezeichnung Völkermord als antisemitisch zu denunzieren, haben sich die Gewalttaten vor Ort tatsächlich in ein neues Maß gesteigert. Dass hungernde Menschen, die wie Vieh zu den wenigen von der israelischen Armee kontrollierten Essensausgaben dirigiert werden, gezielt beschossen und erschossen werden – wer denkt sich so etwas aus? In der israelischen Tageszeitung Haaretz berichteten israelische Soldaten vor wenigen Tagen, dass sie explizit aufgefordert werden, schonungslos in die Menge zu zielen. Die Essensausgabe als Todeszone. Jeden Morgen wachen wir nach ausreichend Schlaf in unseren Betten auf und erfahren die neusten Todeszahlen aus Gaza. Das sind die von letzter Woche:
- Am Montag: 39 Tote
- Am Dienstag: 79 Tote
- Am Mittwoch: 79 Tote
- Am Donnerstag: 103 Tote
- Am Freitag: 72 Tote
- Am Samstag: 81 Tote
- Am Sonntag: 88 Tote.
Das ist der wöchentliche Todes-Stakkato aus Gaza.
Ein Arzt aus dem As-Schiffa Krankenhaus im Norden von Gaza berichtet täglich von der Vernichtung des Gesundheitssystems: “Hier ist keine Medizin mehr vorhanden weder für den Körper, noch für die Seele. Heute haben wir letzten Rest Kochsalzlösung verloren. Salz und Wasser – das elemantarste Werkzeug der Medizin. Ohne sie können wir die Kranken nicht hydrieren, keine Wunden reinigen und sie über die Nacht bringen. Wir haben Salz in unseren Tränen, aber nicht in unseren Kliniken.”
Ähnliches berichtet unser Kollege Bassam Zaqhout von unserer medizinischen Partnerorganisation Palestinian Medical Relief Society im Gaza-Streifen. Was ist schlimmer, fragt er sich: Die ständigen Evakuierungsbefehle, die Bombardierungen der israelischen Armee, ein Kilo Zucker für 60 Dollar, ein 14jähriger Junge, der darum bittet ihn verbluten zu lassen, oder das Fehlen von Medikamenten. (Sie können das ganze Gespräch auf der medico-Website nachlesen.) Wenn wir nichts tun können, besteht unsere Pflicht in der täglichen Kenntnisnahme des Geschehens. Deshalb erzähle ich es hier und weiß, dass Sie bereits alles wissen.
Jetzt bestätigt sich auch, was wir doch in Wahrheit auch schon wussten, was aber mit dem Zusatz Zahlen des „Hamas-Gesundheitsministeriums“ als unglaubwürdige Propaganda abgetan wurde. Die Opferzahlen in Gaza liegen jetzt weitaus höher als vom Gesundheitsministerium angegeben. Dieses hatte sich nur auf Opferzahlen gestützt, deren Namen gesichert waren. Eine unabhängige wissenschaftliche Forschung aus mehreren Ländern, die mit einem unabhängigen Statistik-Institut in Gaza zusammenarbeitet, kommt nun nach der weltweit angesehensten Medizin-Zeitschrift The Lancet zum zweiten Mal zu dem Ergebnis, dass die Opferzahlen viel höher sind. Zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 5. Januar 2025 beträgt demnach die Zahl der direkten Kriegstoten etwa 75.200. Das von der israelischen Regierung der “Terrorpropaganda” bezichtigte Gesundheitsministerium spricht von 45.805 für denselben Zeitraum. 30 Prozent davon sind Kinder unter 18 Jahren. Indirekte Tote berechnet diese Statistik mit 8.500, was anderen Experten viel zu niedrig erscheint. “Wenn das alles einmal vorbei ist, dann braucht es ein riesiges Projekt, sicher ein jahrzehntlang, um wirklich zu rekonstruieren, was in Gaza alles geschehen ist”, sagt der Leiter des Projekts. Allein in Anerkennung der Opfer wird eine solche Rekonstruktion nötig sein. Aber was wir wissen, macht uns schon jetzt zu Mitwisserinnen und Mitwissern. Wir kommen also um ein Stellungnehmen nicht herum. (Danke Fabian Goldmann und Karim El Ghawari für die Auflistung und die Übersetzung des Arztberichts).
Der Satz “alle werden hinterher immer schon dagegen gewesen sein” verweist indirekt darauf. Er deutet an, dass viele glauben im Wissen der aufgezählten Verbrechen, ihre moralische Integrität mit dem vorläufigen Beschweigen der Verbrechen bewahren zu können. Einmal ist es schließlich Deutschland gelungen sich von ungeheuerlichen Verbrechen reinzuwaschen. Nicht für die Erinnerungskultur wird aber Deutschland künftig gelobt werden, sondern für die erfolgreiche Wiedergutwerdung, und dafür, dass es ihm gelungen ist, wie Thomas Mann einst sagte, sich ein weißes Kleid der Unschuld überzuziehen.
Man könnte gar meinen, die Fähigkeit Wieder-gut-zu-werden sei ein Kennzeichen des weißen Überlegenheitsdenken. Denn, das deutsche Gedächtnistheater hat die Deutschen zu einem Hüter eines Anti-Antisemitismus gemacht, in dem Antisemiten immer die anderen, im Zweifel die Zugewanderten sind. Schon hier enthüllt sich, dass es nicht in erster Linie um eine Beschäftigung mit antisemitischen Ressentiments geht, die – wie es Ressentiments eigentümlich ist – im verdeckten Agieren und überraschend zum Vorschein kommen. Es geht vor allen Dingen darum, sich selbst frei davon zu definieren. Deshalb müssen Antisemiten die anderen sein. Der deutsche Staat exerziert dies in geradezu erstaunlicher Weise. Die Jüdische Stimme für gerechten Frieden wird vom Verfassungsschutz als extremistisch – in Klammern als “antisemitisch” eingestuft. Jüdische Intellektuelle sollen oder dürfen an deutschen Universitäten nicht sprechen, weil sie sich solidarisch mit Palästina zeigen. Deutsche Palästinenserinnen und Palästinenser, die größte palästinensische Gemeinde in Europa, sind qua Herkunft verdächtig. Dort, wo verleumderische Antisemitismusvorwürfe nicht greifen, setzt die Staatlichkeit auf Verfolgung und Unterdrückung der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit.
“Hinterher werden alle schon immer dagegen gewesen sein.” Das verspätete moralische Gutsein – dann, wenn es nichts mehr kostet, ist wertlos. Jetzt gegen den Völkermord in Gaza zu sein, kostet trotz der Offensichtlichkeit der Verbrechen immer noch Mut. Denn der aufkommende Autoritarismus hierzulande hat sich mit der Waffe des sogenannten antiisraelischen Antisemitismus bewaffnet, um seine Gegner einer beispiellosen Schmutzkampagne zu unterwerfen. Wir kennen das aus Deutschland. Hier ist erst anderthalb Jahre nach dem Beginn des hemmungslosen Krieges gegen die gesamte Bevölkerung in Gaza gelungen, Berlin eine Demonstration durchzuführen, die mehrere zehntausend Teilnehmerinnen hatte. Da waren schon Hunderttausende in London, den Niederlanden oder Paris mehrfach unterwegs.
Es zählt, egal, wie viele sich aufmachen ihren Protest öffentlich zu machen, ein sofortiges Ende des Tötens, die Freilassung der israelischen Geiseln wie der tausende palästinensischen Geiseln in israelischen Gefängnissen zu fordern.
Es zählt, wenn sich Kultureinrichtungen weigern, postkoloniales Denken zu verbannen, weil es jetzt in der deutschen Staatsräson als antisemitisch gilt.
Es zählt, wenn Journalistinnen und Journalisten sich dem Konformismus des medialen Mainstreams entgegenstellen und ihre dissidentische Stimme hörbar machen.
Und: Es zählt, dass Ihr alle heute hier seid!
Ich mache mir keine Illusionen, dass wir etwas an der herrschenden Politik hier und heute ändern können. Aber wer sich erinnert: Die Proteste gegen den israelischen Gaza-Krieg begannen in New York, die auch als größte jüdische Großstadt gilt. Sie schienen mit administrativen und polizeilichen Maßnahmen gegen die Studierenden an der Columbia-Universität und jetzt mit dem Sieg Trumps zum Erliegen gekommen zu sein.
Nun aber hat Zohran Mamdani die Vorwahlen der Demokraten für die Bürgermeisterschaftskandidaten in New York gewonnen, und das ganze politische Establishment ist erschüttert. Der unterdrückte Protest erhob sein Haupt erneut im Wahlkampf, in dem junge Leute durch die New Yorker Stadtteile zogen, um für Zohran Mamdani zu werben. Er hat diesen Vorwahlkampf vor allen Dingen unter jungen Leuten gewonnen und zwar insbesondere deshalb, weil er eine furchtlose und der Wahrheit verpflichtete unerschütterliche Haltung zu Gaza eingenommen hat.
So wichtig die Fragen nach Umverteilung des Reichtums weltweit und erst recht in einer Stadt wie New York sind, hier geht es um viel mehr. Um die Welt im Ganzen. Die Welt, die diese Verbrechen in Gaza zulässt, ist eine ohne Rechte und Gerechtigkeit, eine Welt, machttrunkener, narzisstischer Männer und auch Frauen, für die keine Regel mehr gilt. Nur die eine: Es herrscht das Recht des Stärkeren.
Ich kann nicht glauben, sagte Daniel Levy, den ich schon eingangs zitiert habe, dass Israel einen Ground Zero mit einem neuen Maßstab von Unmenschlichkeit schafft und die Verantwortung trägt für die Zerstörung der internationalen rechtlichen Architektur, die wesentlich nach dem Holocaust entstand. Es müsse, so Levy, auch in Israel Menschen geben, die daran arbeiten, das zu verhindern.
Wir bei medico wissen, dass es solche Menschen und Organisationen gibt. Viele sind seit Jahren unsere Partner und sind, wie der Direktor der israelischen Ärzte für Menschenerechte sagte, an dieser Aufgabe seit dem 7. Oktober gewachsen. Es sind Organisationen, die das Zusammenleben und Zusammenarbeiten von Juden und Palästinensern, den Einsatz für Menschenrechte seit Jahren eingeübt haben. Und sich des Risikos auch für sich selbst bewusst sind. Dass sie weitermachen, dass sie ausharren, dass sie öffentlich sprechen, solange, bis ein anderer Wind weht, ein Wind, der Freiheit und Recht für alle bringt. Das ist ein Zeichen der Zuversicht. Wir brauchen es in diesen düsteren Zeiten.
Schönen Dank!